WIEN. Dr. Harald Lassmann holt seinen Neffen Mag. Lukas Lassmann zum Gespräch über das Thema „30 Jahre Ostöffnung“. Der Absolvent des Studiums der Betriebswirtschaft an der WU Wien verstärkt seit ein paar Jahren das Team der RUSSIA Fachspedition Dr. Lassmann GmbH. Er trägt die Verantwortung für die Geschäftsfelder Pharma Logistik, GDP & Quality. Damit steht er in ziemlich großen Schuhen, denn wenn im Russland-Verkehr seit der Verhängung der Wirtschaftssanktionen noch etwas auf Hochtouren läuft, dann sind das die internationalen Lkw-Transporte mit Arzneimitteln, Medikamenten, Healthcare- und Life Sciences-Produkten.
Allein die in Wien ansässige RUSSIA Fachspedition Dr. Lassmann organisiert im laufenden Jahr die Beförderung von 2.500 Lkw-Ladungen mit sensiblen Produkten der Pharmaindustrie. Sie nutzt dafür sowohl Doppelstockfahrzeuge mit Satellitenüberwachung als auch Kleintransporter für Expresslieferungen unter Temperaturkontrolle. Das geschieht unter strikter Einhaltung der aktuellen Vorgaben der EU-Guideline Good Distribution Practice (GDP) und schließt seit einiger Zeit auch die Online-Temperaturüberwachung in Echtzeit ein. Trotz der strengen Vorgaben und laufenden Kontrollen der Kunden wirken Harald Lassmann und Lukas Lassmann gelassen. Sie vermitteln den Eindruck, dass ihr Team die Abläufe in der Pharmalogistik im Griff hat.
Beim Thema „30 Jahre Ostöffnung“ kommt Harald Lassmann auf Michail Gorbatschow zu sprechen. Dessen von den Begriffen „Glasnost“ (Transparenz) und „Perestrojka“ (Umbau) geprägte Politik habe das Fundament für den Fall des „Eisernen Vorhanges“ geschaffen, ist der Wiener Speditionsunternehmer überzeugt. Sie bewirkte einen immensen Wirtschaftsaufschwung in den Reformstaaten, mit positiven Folgen für den gesamten europäischen Kontinent. Es entstand eine riesige Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern aus dem Westen und damit verbunden ein enormer Transportbedarf. Gleichzeitig kamen die Geschäftsmodelle der bis dahin dominierenden Staatsfrächter und –speditionen durch das Auftreten von neuen lokalen Logistikunternehmen und die westeuropäische Konkurrenz ins Wanken.
Bis zur „Ostöffnung“ habe sein Unternehmen hauptsächlich von Dienstleistungen in der Messe- und Ersatzteillogistik gelebt, erzählt Harald Lassmann. Die Wochen, Monate und Jahre danach erlebte er „als eine Zeit, in der bei uns laufend Anfragen für Speditionsleistungen auf dem von Österreich und Westeuropa bekannten Niveau nach Russland eingetroffen sind“. Alles sollte schneller, besser, effizienter und dadurch bedingt auch kostengünstiger werden. Das Ganze entwickelte eine derartige Dynamik, dass in den folgenden Jahren viele der früheren staatlichen Monopolunternehmen aufgrund von Firmenakquisitionen, Fusionen oder Insolvenzen von der Bildfläche verschwunden sind.
Ihre Rolle übernahmen internationale Transportorganisationen und Logistikdienstleister mit vernünftigen Lager- und Distributionsstrukturen in den Ländern in Zentral-, Ost- und Südosteuropa. Den ersten diesbezüglichen „Hype“ erlebten Ungarn, Polen und die frühere Tschechoslowakei. Dann folgten in mehreren Etappen die Staaten im Baltikum, Rumänien, Bulgarien, die Ukraine und Russland. Bei der RUSSIA Fachspedition Dr. Lassmann nahm man das zum Anlass zur Etablierung von eigenen Niederlassungen in Moskau, St. Petersburg, Saratov an der Wolga (alle in Russland) sowie in den weißrussischen Städten Brest und Minsk. Daraus entwickelte sich eine Firmengruppe mit augenblicklich 85 Mitarbeitenden – davon 20 Personen am Firmensitz in Wien und rund 20 Mio. Euro Jahresumsatz.
Der schrittweise Auf- und Ausbau von Transport-, Lager- und Distributionsnetzen in Zentral-, Ost- und Südosteuropa erlebt aktuell in den Regionen Kaukasus und Zentralasien seine Fortsetzung. Das sei aufgrund der längeren Distanzen von Europa in die Zielgebiete und retour eine größere Herausforderung für die Speditionen, reflektiert Harald Lassmann im Gespräch mit der Österreichischen Verkehrszeitung. Doch die Perspektiven für einen nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung in der Region sind so günstig, dass einige Logistikunternehmen diesen Aufwand gerne in Kauf nehmen. So plant die RUSSIA Fachspedition Dr. Lassmann die baldige Eröffnung einer Repräsentanz in der usbekischen Hauptstadt Taschkent.
Harald Lassmann betrachtet Usbekistan „als neuen Nischenmarkt mit dem Potenzial für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum in Zentralasien“. Unter dem seit September 2016 amtierende Präsident Shavkat Mirziyoyev vollzieht das Land mit 35 Mio. Einwohnern eine weitreichende politische Öffnung. Damit einher geht die Lockerung der Rahmenbedingungen für Auslandsinvestoren als Instrument zur Modernisierung der lokalen Wirtschaft. Daraus resultiert ein steigender Transportbedarf für Importe und Exporte. Dem soll die Repräsentanz der RUSSIA Fachspedition Dr. Lassmann mit Maßnahmen zur Geschäftsentwicklung und Verkaufsförderung Rechnung tragen, wobei man die Dienstleistungen auf dem Gebiet der Zoll-, Lager- und Distributionslogistik von lokalen Partnerunternehmen beziehen wird.
So positiv sich „Glasnost“ und „Perestrojka“ für die Wiener Spedition ausgewirkt haben, so deutlich spürt sie jetzt die Folgen der von Europa und Nordamerika gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen. Vor allem die negativen Effekte für die internationalen Transporte seien gravierend, sagt Harald Lassmann. Allerdings wachse der Bedarf an innerrussischen Speditionsdiensten und für Beförderungen auf den Verbindungen von Russland nach China und retour. Insofern schätzt er sich glücklich über die firmeneigenen Niederlassungen in der früheren Sowjetunion, deren Mitarbeitende die Entwicklung, Umsetzung und Betreuung von ganzheitlichen Logistikkonzepten beherrschen.
In den nächsten Jahren befürchtet Harald Lassmann die Abwanderung der internationalen Lkw-Komplettladungsverkehre (FTL = Full Truck Loads) auf den Russland- und Zentralasien-Relationen von den Speditionen zu den Frachtführern. Als Reaktion darauf arbeitet er mit seinem Team an weiteren Qualitätsverbesserungen und an umweltfreundlichen Logistikkonzepten. Dabei geht es um die Realisierung von Lösungsszenarien mit möglichst kurzen Transitzeiten bei optimal ausgelasteten Frachträumen. Dabei zieht man auf weiten Strecken auch die Kombination der Verkehrsträger Schiene und Straße in Erwägung, was den „Green Logistics“-Plänen zusätzlichen Auftrieb geben würde.
JOACHIM HORVATH