SOPRON. Vielleicht liegt es an seiner Tochter, die gerade mit dem Studium der Kommunikationswissenschaften an der Universität Budapest begonnen hat. Jedenfalls pflegt András Végh einen professionellen Umgang mit den Medien. Terminanfragen werden zügig bearbeitet. Das vereinbarte Interview ist inhaltlich ergiebig und von einer erfrischenden Offenheit geprägt. Der stellvertretende Generaldirektor der Güterbahn Gysev Cargo besitzt einen scharfen Verstand – und er beherrscht die deutsche Sprache. So vergeht die 60-minütige Zusammenkunft mit der Österreichischen Verkehrszeitung wie im Flug, was auch dem Thema geschuldet ist. Zu „30 Jahre Ostöffnung“ und „15 Jahre EU-Osterweiterung“ kann in Ungarn jeder Zeitzeuge etwas erzählen.
Für Bahnlogistiker wie András Végh war die EU-Osterweiterung die große Zäsur im Berufsleben. Bis dahin dümpelten die Staatsbahnen mehr oder weniger erfolgreich in ihren Heimmärkten herum. Doch dann betraten die in- und ausländischen Mitbewerber ihr Terrain. Begleitet wurde diese Entwicklung von der Auflösung der integrierten Güterbahnen, deren Managementstäbe auch die Verantwortung für die Schieneninfrastruktur getragen hatten. Das ließ sich so in einem freien Markt nicht aufrecht erhalten. Stattdessen mussten sich die „Cargo Carrier“ auf ihr Kerngeschäft konzentrieren, sprich auf die Durchführung von konventionellen und intermodalen Gütertransporten auf der Schiene.
Wie auch immer, es tummeln sich jetzt viel mehr Anbieter am Markt. Das ist ein Vorteil für die innovativen Güterbahnen. Es kann aber auch nicht schaden, wenn die einzelnen Anbieter über eine solide Kapitalausstattung verfügen. Denn sowohl die Anschaffung von Mehrsystemlokomotiven als auch von modernen Güter- und Containertragwagen ist mit erheblichen Kosten verbunden. „Auf diesem Gebiet befinden sich die großen Güterbahnen im Vorteil“, stellt András Végh fest. Allerdings müssten auch diese Anbieter mit den vorhandenen Engpässen im Bereich der Schieneninfrastruktur zurechtkommen. Das klingt nach einer Anspielung auf die Versäumnisse bei der Modernisierung von Bahnstrecken in ganz Europa, darunter auch in Ungarn.
Aus der Sicht der Gysev Cargo sind die Interessen der Güterbahnen und der Infrastrukturbetreiber schwer in Einklang zu bringen. Das hält das Unternehmen aber nicht von der Neugestaltung der Betriebsabläufe und Strukturen ab. Erstere werden durch die Implementierung der IT-Lösung „Rail Cargo System“ von AB Ovo auf den modernsten Stand der Dinge gebracht. Dabei spannt sich der Gestaltungsbogen von den Vertragsabschlüssen bis zur Rechnungslegung. Damit einher geht die Einführung eines auf die Eindämmung der Abhängigkeit von äußeren Einflussfaktoren fokussierten Organisationsschemas. Dafür gibt es seit eineinhalb Monaten erstmals in der Firmengeschichte der Muttergesellschaft Gysev Cargo 16 eigene Lokführer als Ergänzung zu den nach wie vor von der Gysev und anderen Bahnen engagierten Kollegen.
„Außerdem haben wir in diesem Jahr weitere 25 neue Bahnwagen und die ersten drei eigenen Lokomotiven angeschafft“, berichtet András Végh. Bei zwei Triebfahrzeugen handelt es sich um BR233-Maschinen mit dem Spitznamen „Ludmilla“. Sie können bis zu 2.400 Tonnen schwere Güterzüge ziehen und kommen auf dem Nord-Süd Korridor „Amber“ zum Einsatz, wo es noch Teilabschnitte mit Dieseltraktion gibt. Die neue Vectron-Lokomotive tritt noch vor Jahresende auf der Verkehrsachse von Österreich nach Ungarn ihren Dienst an. Außerdem betreibt Gysev Cargo acht von der Muttergesellschaft Gysev angemietete Lokomotiven (9 Vectron und 5 Taurus, 8 V43 und 14 Rangierloks), vier von ELL geleaste Vectron-Einheiten und drei ältere Modelle aus dem Bestand der ungarischen Staatsbahn MÁV. Zum Wagenpark gehören jeweils rund 550 Stück eigene sowie gemietete Einheiten.
Strategisch positionieren sich Gysev Cargo und Raaberbahn Cargo als neutrale Anbieter von Transportlösungen im Schienengüterverkehr. Das hat die Einstellung der unabhängigen Aktivitäten der Speditionstochter Amber Rail zur Konsequenz, die in den letzten fünf Jahren gute Geschäftsbeziehungen aufgebaut habe, wie András Végh einräumt. Das könne allerdings Probleme im Verhältnis zu den anderen Logistikdienstleistern verursachen, weshalb man jetzt den Rückzug aus diesem Marktsegment antrete. Die Verantwortlichen erwarten sich davon neue Impulse aus der Speditionsbranche, gestützt auf Traktionslösungen für Güterzüge auf den West-Ost- und Nord-Süd-Korridoren von, nach und durch Österreich und Ungarn.
Gysev Cargo bewegt im laufenden Jahr rund 4 Mio. Tonnen Güter in Ungarn und 1 Mio. Tonnen Fracht in Österreich. Daraus resultiert ein von rund 300 Mitarbeitenden erwirtschafteter Umsatz in der Höhe von 50 Mio. Euro. Bei jeder dieser Kennzahlen will sich das Unternehmen in den nächsten Jahren verbessern. Das dafür ausgearbeitete Konzept sieht neben anderen Maßnahmen den Ausbau der Ungarn-Operationen zu den Grenzen von Slowenien, Kroatien und Serbien vor. Dafür wurde zur Entlastung der Dispositionszentrale in Sopron ein Team in Budapest aufgebaut, das die Verkehre in Ostungarn betreuen soll. In Österreich stehen Serviceerweiterungen bis zur italienischen Grenze bei Tarvis zur Diskussion.
Etwa 60 Prozent des Absatzes generiert Gysev Cargo im Segment Intermodal. Dazu leistet auch der mit zwei Portalkranen ausgestattete Containerterminal mit einer Jahresumschlagkapazität für 72.000 Ladeeinheiten in Sopron einen Beitrag, den man als Kompetenzzentrum für Blockzüge auf den Verbindungen von Mitteleuropa in die Türkei und retour positionieren möchte. „Hier besteht unser Ziel im Gewinn von zusätzlichen Verkehren“, räumt András Végh ein. Und falls Bedarf dafür gegeben sei, stelle Gysev Cargo in Zusammenarbeit mit internationalen Speditionen und Transportunternehmen auch logistische Dienstleistungen wie Vor- und Nachläufe auf der Straße bereit.
Vor diesen Hintergrund steht die Verlängerung der Gleise auf 750 Meter und die Beschaffung von weiteren Portalkranen zur Diskussion. Die Aktivitäten in der Lagerlogistik gründen auf 60.000 m² Frei- und 28.000 m² Hallenfläche, die derzeit laut offiziellen Angaben sehr gut ausgelastet sind.
JOACHIM HORVATH