WIEN. Natürlich berührt die vor 30 Jahren erfolgte „Ostöffnung“ die in den früheren RGW-Staaten aufgewachsenen Zeitzeugen. Für sie war es bis im Herbst 1989 undenkbar, aus Lust und Laune heraus eine Reise nach Österreich, Italien oder in ein westeuropäisches Land anzutreten. Für die Bahnlogistikindustrie änderte sich dadurch zunächst nur wenig. Vielmehr betreuten die Staatsbahnen weiterhin ihr Kerngeschäft im nationalen Schienengüterverkehr, ergänzt um systemrelevante Operationen auf internationalen Routen. Für sie schlug die Stunde der Wahrheit erst im Zuge der EU-Osterweiterung und der Liberalisierung des europäischen Bahntransportwesens im Jahr 2004.
Für Dr. Imre Kovács, in Personalunion CEO von Rail Cargo Hungaria (RCH) und Vorstandsdirektor mit Verantwortung für die Bereiche Internationale Produktion und Vertrieb bei der Rail Cargo Group (RCG), haben die Güterbahnen in Österreich und Westeuropa bis dahin eine Evolution durchlaufen. Die Unternehmen sind organisch gewachsen. Ihr Fuhrpark wurde zielgerichtet modernisiert und die Schieneninfrastruktur bedarfsgerecht ertüchtigt. In Ost- und Südosteuropa hingegen blieb die Zeit stehen. Es fehlten die finanziellen Mittel für die Modernisierung der Lokomotiv- und Waggonflotten. Außerdem verfielen gewisse Bahnstrecken zusehends. Man kann sagen, die Kluft im Serviceangebot der „Rail Cargo Carrier“ in Österreich und Deutschland auf der einen und in Ungarn, Tschechien und Rumänien auf der anderen Seite wuchs von Jahr zu Jahr.
„Und dann kam am 1. Mai 2004 die Liberalisierung des Schienengüterverkehrs. Das war für die osteuropäischen Güterbahnen eine Revolution“, schildert Imre Kovács die damaligen Ereignisse. Demnach waren die Unternehmen auf die neu entstandene Wettbewerbssituation nicht vorbereitet. Sie sind in das geänderte Szenario hineingefallen. Vielen Verantwortlichen steckt dieses „Schockerlebnis“ bis heute in den Knochen. Aktuelle Zahlen bekräftigen das. Demnach wurden in Ungarn vor 20 Jahren rund 100 Mio. Tonnen Güter per annum auf der Schiene transportiert. Heute sind es etwa 45 Mio. Tonnen im Jahr. An der ungarisch-ukrainischen Bahngrenzstelle in Zahony, wo die Netze der Normal- und Breitspursysteme zusammenlaufen, ist der Umschlag im Beobachtungszeitraum von 20 Mio. Tonnen auf knapp 5 Mio. Tonnen Fracht im Jahr abgesackt.
Die Folge davon war, dass zum Beispiel die staatliche rumänische Güterbahn CFR Marfa in den vergangenen 15 Jahren etwa 70 Prozent des Transportvolumens an die nationalen und internationalen Mitbewerber verloren hat. Manche Anbieter aus dem ehemaligen „Ostblock“ erwischte es noch schlimmer, bis hin zur Einstellung der betrieblichen Tätigkeit. Und wer weiß, was aus der früheren MÁV Cargo geworden wäre, wenn das Unternehmen nicht mit dem unter der Dachmarke Rail Cargo Group (RCG) zusammengefassten ÖBB-Güterverkehr einen neuen Eigentümer gefunden hätte. Der Verkauf der ungarischen Güterbahn an den österreichischen Bahnkonzern sorgte im Jahr 2008 aus verschiedenen Gründen für viel Aufsehen.
„Ohne die Privatisierung hätte die MÁV Cargo die im Herbst 2008 angelaufene weltweite Wirtschaftskrise wahrscheinlich nicht überlebt“, lautet die Einschätzung von Imre Kovács. Für ihn ist die Transaktion in der nachträglichen Betrachtung zum optimalen Zeitpunkt gekommen. Außerdem sei das für beide Seiten ein Glücksfall gewesen. „Die ungarische Güterbahn ist damit in Europa angekommen. Gleichzeitig konnte die Rail Cargo Group so einen zweiten Heimmarkt neben Österreich erschließen.“ Im Jahr 2018 hat die Rail Cargo Hungaria rund 33 Mio. Tonnen Güter befördert, davon rund 80 Prozent im internationalen Verkehr. Der von den rund 2.000 Mitarbeitenden erwirtschaftete Umsatz erreichte die Marke von 200 Mio. Euro.
Imre Kovács bezeichnet Rail Cargo Hungaria im Gespräch mit der Österreichischen Verkehrszeitung wörtlich „als Komplettanbieter im Schienengüterverkehr und wichtigen Partner für die ungarischen Wirtschaft“. Das Produktportfolio schließt als eine gemeinwirtschaftliche Leistung auch den Einzelwagenverkehr ein, der rund 35 Prozent zum Gesamtvolumen beisteuert. Jedoch ist diese Form der Transportlogistik schwer wirtschaftlich darstellbar. Das hat jetzt auch die ungarische Regierung eingesehen. Eine kürzlich unterzeichnete strategische Kooperationsvereinbarung mit dem Verkehrsministerium in Budapest sichert Rail Cargo Hungaria finanzielle Unterstützung im Einzelwagen- und Containerverkehr zu.
Für alle anderen Maßnahmen zur Beseitigung der Wettbewerbsnachteile gegenüber den westeuropäischen Güterbahnen hat die Rail Cargo Group gesorgt. So wurden in den letzten elf Jahren die 12.000 alten Güterwagen aus dem Bestand der MÁV Cargo durch 9.000 moderne Einheiten ersetzt. An die Stelle der mit der MÁV Group unterhaltenen Mietverträge für Triebfahrzeuge sind 33 RCH-eigene Lokomotiven – vorrangig vom Typ Taurus – getreten. Sie erhalten Unterstützung durch 16 RCG-Maschinen. Damit erledigt das Unternehmen derzeit rund 50 Prozent der elektrischen Traktion in Ungarn in Eigenregie. Dieser Wert soll bis 2025 auf 90 Prozent steigen, was weitere Neuanschaffungen erfordert. Erst kürzlich wurde ein Vertrag zum Kauf von zwei Streckenlokomotiven mit „Last Mile Function“ sowie von zwei Hybrid-Verschublokomotiven unterzeichnet. Damit verbunden ist die Option für den Erwerb von weiteren 20 Maschinen.
Die Rail Cargo Group als solche hat in den vergangenen Jahren mit Erfolg ein flächendeckendes Netzwerk für hochfrequente Schienengüterverkehre auf ausgewählten Korridoren von den Nord-/Westhäfen über Deutschland, Polen und Mitteleuropa bis zur Adria und zum Schwarzen Meer unter Einschluss von Griechenland und den Verbindungen bis zur türkischen Grenze aufgebaut. „Wir bieten jetzt in zwölf Ländern High Quality Services in Eigentraktion an“, verkündet Imre Kovács mit Stolz. Dabei hole man aus der im Vergleich zum Straßennetz noch schlecht ausgebauten Schieneninfrastruktur das Bestmögliche heraus. Besonders störend seien dabei die Schengen-Außengrenzen nach Kroatien, Serbien sowie Rumänien, wo die Güterzüge oft tagelang auf die Abfertigung warten müssten. „Dieses Hindernis für die Bahnlogistik gehört rasch beseitigt“, appelliert Imre Kovács an die Adresse der Politik gerichtet.
JOACHIM HORVATH